Paul und Frieda Müller

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Das Jahr 1884 war ein ganz entscheidendes Jahr für Paul Ernst Müller. Kurz vor seinem 14. Geburtstag am 7. April verließ er seine Heimat Stahlberg im Erzgebirge.

Sein Vater wollte unbedingt, dass er eine Lehre als Gärtner machte. Obwohl er das Erzgebirge liebte, sah er seine Zukunft nicht in dieser abgelegenen Berglandschaft. Ihn trieb es in die weite Welt. Sein Vater war fast 60 Jahre alt, seine älteren Brüder studierten Architektur und Medizin. Er hatte zwölf Geschwister.

Heimlich in der Nacht verließ Paul das Haus seiner Eltern, nur seine Mutter war eingeweiht. Sie segnete ihn und gab ihm Geld für die Bahnreise nach Berlin. Dort bewarb er sich bei der Kaiserlichen Marine und mit 420 weiteren Bewerbern wurde er von einem Marine-Offizier vom Lehrter Bahnhof abgeholt und nach Kiel begleitet.

An seinem 14. Geburtstag am 7. April war er schon im Marinestützpunkt Kiel; in der Kaiserlichen Schiffsjungenabteilung in Friedrichsort Kiel, die Ausbildung in der Marine war ihm zu hart, er bat seine Eltern wieder nach Hause kommen zu dürfen. Er bereute zutiefst diesen Schritt, einfach von zu Hause wegzulaufen. Dem Vater bat er um 30 Mark für die Rückreise ins Erzgebirge. Es wäre ein wunderbares Geschenk zum 14. Geburtstag, wenn er die Erlaubnis von den Eltern bekommen würde. „In zwölf Tagen ist es zu spät. In die Kirche gehen kann ich nicht, um ein aufrichtiges Gebet zu Gott zu richten; gute Gesellschaft habe ich auch nicht. Ich würde alles tun, nur nicht hier bleiben“, war sein Versprechen an den Vater, „und ich werde auch zu dem Gärtnermeister gehen.  Viele Jungen in seinem Alter gaben auf, sie hielten den Drill bei der Marine nicht aus. Mit nackten Füßen wurden sie in die mit Eis besetzte Takelage geschickt, und manchmal waren die Speisen mit Würmern durchsetzt, so dass die Schiffsjungen im Dunkeln aßen, damit sie die Würmer nicht sahen. Sie hielten es vor Hunger nicht aus. Paul erwähnte in seinem Brief: „15 Jahre, 15 lange Jahre.“ Sehr wahrscheinlich war die Rede davon, nach der Ausbildung als Hilfsmatrose noch weitere zwölf Jahre in der Marine zu bleiben. Mit gleicher Post schrieb er auch, dass die Schiffsjungen schon eingekleidet worden sind. Neben Oberbluse und Hose hatten sie Besteck, Spiegel und Haarbürsten, sowie Zwirn und Anzugsäcke bekommen.

Doch als die Post im Erzgebirge ankam, hatte er schon seine Ausbildung auf der Segelfregatte „Niobe“ begonnen. Nun bekam er doch Gefallen an der Seefahrt. Die Briefe klangen nicht mehr so verzweifelt.

Schon ein Jahr später ging es auf große Fahrt nach Süd-Amerika. Der nächste Brief kam am 29. August 1885 aus Lissabon, Paul war nun als Schiffsjunge an Bord der S.M.S. „Musqito“, einer Brigg der Kaiserlichen Marine, dass als Segelschulschiff zur Ausbildung von Schiffsjungen diente.

Am 1. Juni 1885 hatte die „Musquito“ gemeinsam mit der Glasdeckkorvette „Luise“ den Kieler Hafen verlassen. Paul schrieb einen langen Brief an seine Eltern aus Portugal. Die „Musquito“ würde im Hafen von Lissabon liegen und hätte die gelbe Flagge gehisst. Das Schiff lag für fünf Tage unter Quarantäne, weil es zuvor einen nordspanischen Hafen angelaufen hatte und dort herrschte ganz fürchterlich die Cholera. Als nächstes würden sie Madeira anlaufen und dort drei Tage bleiben, bevor es weiter nach Brasilien ging. Am 21. Oktober erreichte die Brigg den Hafen von Bahia. Die beiden Schiffe nutzen den Hafen von Barbados von Dezember 1885 bis Januar 1868 als Basis. Dort waren auch noch andere Kreuzerfregatten wie „Stein“ und „Moltke“. Die „Musquito“ und „Luise“ liefen dann entlang der Antillen nach Norden. Am 29. August 1886 lief die „Musquito“ in ihren Heimathafen Kiel ein.

Mit dem Brief vom 3. Juli 1888 schickte er voller Stolz ein Schirmmützenband zu seiner Familie ins Erzgebirge. Seine Schwester bat er, alle seine Mützenbänder in einem Kästchen aufzubewahren. Und er fragte seine Mutter, ob sie ihm doch ein Töpfchen Senf nach Wilhelmshaven schicken würde. Und vielleicht auch Zigarren.

Am 5. Juli besuchte Kaiser Wilhelm, der seit drei Wochen Deutscher Kaiser und König von Preußen war und damit oberster Kriegsherr der Marine. Er wurde von Prinz Heinrich und seiner Frau und dem König von Sachsen begleitet. Die Kaiserliche Yacht „Hohenzollern“ wurde in Dienst gestellt.

1890 war Paul Müller immer noch in Wilhelmshaven, wieder kam der Kaiser zu Besuch. „Morgens um 8 Uhr wurden die Toppflaggen gehisst. Mittags um 12 Uhr wurde von den Schiffen Salut von 21 Schuss gefeuert und drei Hurrahs gebracht. Der Tag wurde am Mittag sehr hübsch.“

Paul Müller 1892

Ende 1890 ging es auf große Fahrt in die Südsee bis nach Neuseeland. Von Samoa segelte die S.M.S. „Leipzig“ nach Ostasien. Von dort berichtete Müller, dass es ein Manöver mit der S.M.S. „Sophie“ im Hafen von Hongkong gab. Dabei fiel ein Matrose aus der Takelage der „Sophie“. Das Geschwader stand unter vollen Segeln, doch die „Sophie“ feuerte sofort einen Alarmschuss und beide Schiffe rafften die Segel und ließen Rettungsboote ins Wasser. Der Mann wurde gerettet.

Dschunke in Hongkong

Paul Müller war begeistert von Hongkong, es wäre eine Welthandelsstadt, so meinte er, und die Chinesen wären alle „nobel“ gekleidet. Und er freute sich, endlich wieder Fleisch und Kartoffeln zu essen, denn in den vielen Monaten in der Südsee hatten die Matrosen kein Fleisch bekommen.

Die beiden Segelschiffe kreuzten entlang der chinesischen Küste bis nach Nanjing. Dort kam der Befehl, zur chilenischen Küste nach Südamerika zu segeln. In Chile war eine Revolution ausgebrochen und die Schiffe sollten die deutschen Interessen schützen. Am 9. Juli erreichten die Schiffe Valparaiso.

Mitte Dezember kam der Befehl zur Weiterfahrt des Geschwaders durch die Magellanstraße. Müller nächster Brief kam aus Uruguay. Paul Müller war mittlerweile ein Weltbürger geworden. In den acht Jahren im Dienst der Marine hatte er viele Erdteile gesehen. Doch die Fahrt durch die Magellanstraße wäre das Allerschönste, was er bisher erlebt habe, so schrieb er es seinen Eltern. Anschließend kehrte Müller über Ostafrika zurück nach Deutschland.

Im Jahr 1893 war Müller zum Feuerwerksmaat aufgestiegen und bildeten schon Schiffsjungen in Kiel aus. Vieles hatte sich in der Marine verändert. Seitdem Wilhelm II Kaiser war, würden die Leute jetzt mit Handschuhe angefasst, so schrieb er es seinem Vater. Obwohl seine Ausbildung als Schiffsjunge hart war, zählten diese drei Jahre zu seinen schönsten Zeit.

Für 1894 hatte er sich viel vorgenommen. Er wollte Deckoffizier werden. Zuerst wollte er die Divisionsschule für die Feuerwerks-Laufbahn in Wilhelmshaven besuchen und später noch zwei Jahre die Oberschule in Berlin dran hängen.

Weihnachten verbrachte er in Wilhelmshaven, seine Mutter schickte ihm Pakete mit Lebkuchen und Stollen. Und selbstverständlich schickte sie auch Räuchermännchen aus dem Erzgebirge. Mit dem Vater hatte er inzwischen Frieden geschlossen. Nun war der Vater stolz auf seinen Sohn.

Die nächsten Jahre verbrachte er in Wilhelmshaven, er hatte eine standesgemäße Wohnung in der Peterstraße gefunden. 1902 kündigte er seiner Mutter ganz vage an, dass sie sich auf eine gute Nachricht freuen könne. In Wilhelmshaven hatte er die elf Jahre jüngere Frieda Ammen kennengelernt. Sie stammte aus einer reichen Bauernfamilie in Schillig.

Schillig

1903 schloss Paul das Examen in Berlin ab und stieg zum Feuerwerk-Leutnant auf. 1904 bekam er das Angebot, im fernen Tsingtau als Feuerwerker zu arbeiten. Er war mittlerweile 34 Jahre alt und hatte viel erreicht. Er war zufrieden. Seine Verlobte Frieda versprach, sobald die Heirat genehmigt war, nach China zu reisen. Am 5. Mai 1904 reiste Paul Müller mit dem Dampfer „Main“ des Norddeutschen Lloyd von Bremerhaven nach Tsingtau. Ihm wurde eine Wohnung in der Nähe des Großen Hafens in Tapautau in der Westpassstraße 108 zugewiesen.

In seinen Briefen erzählte er vom Alltag in Tsingtau. Mit seiner Kamera machte er viele Fotos. Er berichtete seiner Familie vom russisch-japanischen Krieg in Tsingtau und der Entwaffnung der russischen Flotte in Tsingtau. Am Abend des 11. August 1904 lief das russische Kriegsschiff „Zessarewitsch” mit drei weiteren Zerstörern in den Hafen von Tsingtau ein und machte an der Mole II fest. Viele Bürger beobachten, wie Verletzte und Tote von der „Zessarewitsch” geholt wurden. Die Frau des Marine-Baumeisters Troschel, die direkt am Hafen wohnte, machte die Erstversorgung, bevor die Verletzten ins Lazarett gebracht wurden.

Zu Weihnachten schrieb er seiner Mutter:

Mir geht es gut auch hier im Fernen Ostasien. Feiert recht schön vergnügt Weihnachten. Ich feiere allein in meiner absolut ruhigen und einsamen Wohnung. Ich wohne schön, sehr schön. Meine Bude ist kein Prachtbau, aber herrlich gelegen und abgeschlossen allein, kein Mensch stört mich. Wo der Mensch doch überall hin kommt, sitze ich Herumtreiber hier und lerne Chinesisch.“

Und immer schickte er Fotos mit: von seiner abgelegene Wohnung, von seinem Pferd, von seinem Hund und viele Fotos von der Landschaft.

Paul Müller lebte äußerst sparsam, er wollte seiner Braut Frieda eine Schiffspassage 1. Klasse auf einem Dampfer des Norddeutschen Lloyds spendieren. Die Hochzeit plante er im Sommer 1905, aber die Genehmigung des Marinemarineamtes ließ auf sich warten.

Erst am 11. April 1906 startete Frieda Ammen ihre Reise auf dem Reichspostdampfer „Preussen“ von Bremerhaven und traf 47 Tage später in Shanghai ein.

Frieda Müller geb. Ammen

Ende Mai fuhr Paul Müller mit dem Dampfer von Tsingtau nach Shanghai.

Am 28. Mai früh morgens kam der Dampfer „Preussen“ in Shanghai an und ankerte im Wusong. Paul fuhr im Morgengrauen mit dem Tender „Bremen“ zum Dampfer und holte seine Braut ab.

Noch am gleichen Tag heirateten Paul Müller und Frieda Ammen im deutschen Konsulat. Anschließend fand die kirchliche Trauung in der deutschen Kirche in Shanghai statt.

Am 2. Juni kamen beide in Tsingtau an und richteten sich eine Wohnung in der Kronprinzenstraße 231 ein. Beide liebten die Landschaft um Tsingtau, Paul zeigte seiner jungen Frau alte Klöster in der Umgebung und besuchte mit ihr das Genesungsheim „Mecklenburg-Haus“ im Laoshan-Gebirge.

Paul Müller ging oft zur Jagd. Als 1908 das Jagdhaus Malepartus (deutsch: Fuchshöhle) im Laoshan-Gebirge im Auftrag des Tsingtau-Jagdvereines vom Architekten Heinrich Schubart fertiggestellt wurde, war Müller oft mit seinen Jagdfreunden zu Gast. Das Jagdhaus lag etwa drei Wagenstunden von Tsingtau entfernt, nahe des Dorfes Mou chia ku tao.

Jagdhaus „Malepartus“

Paul und Frieda Müller liebten es, schnell mit Pferd und Wagen zu fahren. Sie spornten das Pferd an, sodass manchmal die Kutsche umkippte, das nahmen sie aber in Kauf. Eines Tages ermutigte Paul Müller einen Rikschafahrer, doch schneller zu fahren, in einer Kurve kippte die Rikscha um und Paul Müller fiel ins Wasser, er konnte sich aber schnell retten. Seinen Rikschafahrer zeigte er nicht an, denn das hätte für den eine harte Strafe bedeutet.

Am 24. März 1907 wurde ihre Tochter Anne-Marie in der Wohnung in der Kronprinzenstraße geboren. Frieda Müller war sehr geschickt und fertigte für Anne-Marie ein feines Taufkleid aus Kiautschou-Chinois an. Darin wurde sie von Pfarrer Ludwig Winter am 28. September in der Wohnung Kronprinzenstraße getauft.

Hohenloheweg

1908 Familie Müller bezog die Familie eine größere Wohnung am Hohenloheweg 241 um. Dort wurde am 19. März 1909 der Sohn Hans-Hajo geboren. Am 9. Januar 1910 wurde er im Taufkleid seiner Schwester in der Gouvernementskapelle getauft.

Am gleichen Tag wurde noch ein Foto von der Familie gemeinsam mit ihren chinesischen Angestellten, dem Hauskuli Wuang kou tschuan, dem Kindermädchen Siang Sang, dem Mafu (Pferdeknecht) und dem Boy Sunkiang in einem Garten aufgenommen.

In den letzten Jahren war die Familie oft krank. Paul musste sich mehrmals einer Darmoperation unterziehen. Frieda ertrug die Hitze im Sommer nicht und bekam Ausschläge. Die kleine Anne-Marie quälte sich oft mit Hustenanfällen, besonders in den eisigen Wintermonaten. Deshalb entschieden sich Paul und Frieda Müller, zurück nach Deutschland zu reisen. Auf Werbeanzeigen boten sie ihren Hausstand als Wohnzimmer oder Saloneinrichtung an, mit Schreibtisch und Bücherschrank, Korbmöbeln und Blumenständer. Sogar die Badebude wurde zum Verkauf angeboten sowie das Pony samt Kutsche.

Am 26. Februar 1910 reiste die Familie Müller mit dem chinesischen Kindermädchen Tradang Lin auf dem Truppentransporter „Patricia” nach Wilhelmshaven.

Tsingtau, vor der Abreise

Von Wilhelmshaven reiste die Familie nach Dietrichsdorf bei Kiel. Dort hatte Paul Müller eine neue Aufgabe im Minendepot der Marine gefunden.

Pauls Mutter freute sich, dass die Familie wieder in der Nähe war. Sie hoffe, bald die beiden Kinder zu sehen. Die beiden waren glücklich, dass auch hier das Kindermädchen für sie da war. Das erregte aber Aufsehen, wenn die ganze Familie am Sonntag in Dietrichsdorf spazieren ging, alle Leute starrten sie an. Noch kein Mensch in dem kleinen Ort hatte je eine Chinesin gesehen.

Schon im Sommer schickte Familie Müller sie nach China zurück, weil sie merkten, dass Lin Heimweh nach ihrem geliebten Tsingtau hatte. Die Firma Melchers bestätigte im September 1910 im Auftrag des Norddeutschen Lloyds schriftlich die Ankunft der jungen Frau in Shanghai und teilte auch mit, dass sie noch fünf Dollar besaß. Für diese fünf Dollar kaufte sie sich ein Ticket nach Tsingtau.

Paul Müller fühlte sich sehr wohl im Marinedepot in Dietrichsdorf. Doch während er zur Kur in Wiesbaden war, wurde er auf die Insel Helgoland versetzt.

Auf Helgoland war es einsam, aus den Briefen an die Mutter klang oft eine Missstimmung. Er verstand sich nicht gut mit seinem Vorgesetzten. Das Schlimmste war noch, dass sie gemeinsam mit dem Dienstherr in einem Haus wohnten.

Annemarie, die drei Jahre alt war, als sie Tsingtau verließen, hatte schon gut chinesisch gelernt, vor allem sprach sie mit dem Kindermädchen nur chinesisch. Ihre erlernten Wörter gab sie auch an Hajo weiter, so dass sie später in Norddeutschland auch weiterhin chinesisch miteinander sprachen. Den Nachbarskindern waren diese Sprache so fremd und sie vermeiden es, mit ihnen spielen, so wurde es noch viele Jahre später von Annemarie und Hajo erzählt.

Im Herbst 1910 berichtete Paul Müller stolz seiner Mutter, dass er zum Feuerwerk-Kapitänleutnant aufgestiegen war.

Um 1913, als Anne-Marie eingeschult wurde, verließ Familie Müller die Hochseeinsel Helgoland, Paul Müller ließ sich nach Berlin versetzen. Dort war er bei dem Dezernenten im Waffendepartement Maximilian Rogge in der Bewaffnung von Luftschiffen und U-Boote tätig.

Am 9. Januar 1919 wurde Maximilian Rogge Staatssekretär im Reichsmarineamt. Paul Müller bot man an, Kommandant auf der Insel Borkum zu werden, aber er lehnte ab, weil es dort keine geeigneten Schulen für seine beiden Kinder gab.

Nach 35 Jahren Dienst schied er bei der Kaiserlichen Marine aus und arbeitete fortan in der freien Wirtschaft. Er starb am 18. Januar 1927 an Gelbsucht und Tropenleiden im Alter von 56 Jahren.

Quellen:

Gespräche mit Ingrid Grab im Sommer 2019,

Brief von Anne-Marie Jahn, geb. Müller vom 30.04.2002 an das Deutsche Marinemuseum Wilhelmshaven,

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