Ein halbes Leben in Tsingtau
Minna Günther wurde am 22. Februar 1886 in Prerow an der Ostsee geboren. Dort auf dem Darß wohnten ihre Großeltern. Ihre Eltern hatten 1880 in Mecklenburg geheiratet und waren dann nach Wilhelmshaven gezogen, wo ihr Vater als Schiffszimmermann Arbeit fand. Im Wilhelmshavener Adressbuch von 1884 wurde Ferdinand Günther als Werftschiffsbauer in der Ostfriesenstraße 21 geführt.
Hier wurde auch Minnas ältere Schwester Marie 1881 geboren. 1892 wurde die jüngste Tochter Johanna geboren. Im Juli 1898 starb die Mutter, Minna war gerade zwölf Jahre alt. Der Vater von drei Kindern heiratete im gleichen Jahr die Witwe Johanna Scharmberg. Nach dem Adressbuch von 1900 lebte die Familie in der Alten Straße 20 und Ferdinand trug den Titel Werksführer.
In Wilhelmshaven lernte Minna den 16 Jahre älteren Otto Stielow kennen. Er kam aus Rostock und bereitete sich bei der Wilhelmshavener Marine auf seine Reise nach Ostasien vor. Im Sommer 1906 verlobten sie sich. Beim Ostasiengeschwader in Tsingtau trat er seinen Dienst als 1. Maschinist auf dem Geschwader-Begleitschiff „Titania” an. Minna Günther reiste kurze Zeit später nach Ostasien und am 18. Oktober 1906 heirateten beide in Tsingtau.
Minna und Otto bezogen eine Wohnung in der Irenestraße (heute Hunanlu), am 18. September 1907 wurde Sohn Werner geboren. Im darauffolgenden Jahr wurde ihre Adresse mit Hohenloheweg (heute Dexianlu) angegeben; es ist anzunehmen, dass die Wohnung in der Irenestraße zu klein wurde, denn am 2. Juni 1909 wurde der zweite Sohn Otto geboren.
Im Jahr 1912 ersteigerten Minna und Otto Stielow ein Grundstück an der Albertstraße. Ein Jahr später war das Haus fertig. Von nun an führte Minna Stielow ein großes Haus, sicherlich mit chinesischem Hauspersonal. Der Familie ging es wirtschaftlich gut.
Der älteste Sohn Werner war zu dieser Zeit sieben Jahre alt und ging von der Albertstraße in die Grundschule an der Bismarckstraße nur wenige hundert Meter, ganz sicher hat ihn eine chinesische Amah oder ein Boy gebracht und wieder abgeholt. Andere Schulkinder, die einen weiteren Schulweg hatten, kamen mit einem Esel oder Pony angeritten.
Im Frühjahr 1914 ersteigerte die Familie noch ein weiteres Grundstück an der Bismarckstraße in der Nähe der Schule.
Otto war mit dem Geschwader-Begleitschiff „Titania“ unterwegs. Wenn die „Titania“ im Hafen von Tsingtau lag, konnte er abends nach Hause zu seiner Familie kommen. Doch Ende Juni 1914 lief die „Titania“ gemeinsam mit dem Panzerkreuzer S.M.S. „Scharnhorst” in Richtung Karolinen aus. Bei Kriegsbeginn im August 1914 lagen die Schiffe in Ponape (heute Pohnpei). Danach lief das Kreuzergeschwader die Insel Pagan auf den deutschen Marianen an. Als Japan am 13. August 1914 in den Krieg eintrat, verließen die Schiffe Pagan und das Ostasiengeschwader unter dem Kommando von Graf von Spee und durchquerten den Pazifik. Vor der chilenischen Küste gab es ein Seegefecht mit der britischen Royal Navy, das als Gefecht bei Coronel in die Geschichte einging.
Die „Titania” wurde am 19. November 1914 vor der Insel Mas a Fuera (850 km westlich der Küste von Chile) versenkt, die Besatzung wechselte auf den Hilfskreuzer „Prinz Eitel”. Die S.M.S. „Scharnhorst“ ging mit Admiral Maximilian Graf von Spee und 850 Mann Besatzung am 8. Dezember 1914 im Seegefecht bei den Falklandinseln unter. 1915 wurde die Mannschaft der „Prinz Eitel“ in den USA interniert. Während Ottos Gefangenschaft zog Minna ihre Kinder im japanisch besetzten Tsingtau alleine auf.
Ende Februar 1920 kamen vier Schiffe in Wilhelmshaven an, die viele Kriegsgefangene und einen großen Teil der zivilen Bevölkerung von Tsingtau zurück in die Heimat brachten. Auf einem dieser Schiffe befand sich auch die vierköpfige Familie Stielow. 1921 wurde die Tochter Marielis in Wilhelmshaven geboren.
Als sich 1923 die Japaner aus Tsingtau zurückzogen, kehrte Otto Stielow in die chinesische Hafenstadt zurück und fand Arbeit bei einer Import-Export Firma. Minna folgte ihm kurze Zeit später mit der zweijährigen Marielis.
Minna arbeitete ab dem Jahr 1927 als Handarbeitslehrerin an der deutschen Schule. In dieser Zeit wurde auch Marielis eingeschult. Das Gehalt für Minna wurde mit dem Schulgeld ihrer Tochter verrechnet. Die Schülerinnen liebten ihre Lehrerin, weil sie während der Strick- oder Häkelarbeiten viele Geschichten erzählte, teilweise gab sie ganze Inhalte von beliebten Büchern, wie zum Beispiel Tom Sawyer und Huckleberry Finn von Mark Twain, wieder.
Die Söhne Werner und Otto beendeten ihre Ausbildung in Wilhelmshaven und folgten der Familie erst später nach China.
Um 1934 ging die Im- und Exportfirma Theodor Buck in Konkurs. Otto Stielow wurde arbeitslos. In dieser Zeit eröffnete Minna eine Privatpension, das German House in der Fushan Straße 10. Die Pension florierte, so schrieb Otto es den Freunden in Deutschland. Viele amerikanische Marinesoldaten, die in Manila stationiert waren, machten in Tsingtau Urlaub. Und Minna war in Tsingtau bekannt als gute Wirtin und Köchin.
Die Stielows hatten viele Freunde in Tsingtau, so auch den Schulleiter Klaus Greve. Beide Töchter gingen in dieselbe Schulklasse. Marielis war auch oft zu Gast bei Familie Greve in den Laoshan-Bergen, aber schon nach wenigen Tagen bekam sie Heimweh nach der Familie. 1935 ging Familie Greve zurück nach Deutschland. Weil Minna immer sehr beschäftigt war, berichtete Otto in vielen Briefen den Freunden die Situation in Tsingtau. Im April 1936 feierte Marielis die Konfirmation. Nach dem Schulabschluss besuchte sie die Handelsschule und lernte Stenographie und Maschineschreiben.
Die Söhne Otto und Werner lebten und arbeiteten inzwischen außerhalb von Tsingtau. Otto arbeitete bei IG Farben in Tianjin und Werner bei der Shanghai Power Company.
Otto Stielow starb 1937 in Tsingtau. Minna führte die Pension bis 1943 alleine weiter. Noch bis Ende der 30er Jahre hatte sie einmal in der Woche im Fach Handarbeiten an der deutschen Schule unterrichtet. Viele Frauen unterrichteten ehrenamtlich und bekamen kein Gehalt. Nachdem sie die Pension aufgegeben hatte, wohnte sie in der Juyongguan Straße im Stadtteil Badaguan. Nach ihren eigenen Angaben Nr. 17, doch in ihrem Pass wurde居庸关路二十号 (Nr.20) angegeben. Marielis kehrte vor 1942 zurück nach Wilhelmshaven und arbeitete bei der Hafenneubaudirektion als Stenotypistin. Im Mai 1942 heiratete sie den Buchhalter Heinrich Poppenhäger.
Erst 1950 meldete Minna Stielow sich in Tsingtau offiziell bei der Stadtverwaltung ab, als Ziel gab sie Shanghai an. Im gleichen Jahr kehrte sie nach Wilhelmshaven zurück. Hier starb sie 1960 in einem Seniorenheim im Alter von 74 Jahren.
Das ehemalige German House steht heute kaum verändert an der Fushan Straße und im ehemaligen Haus der Stielows an der Albertstraße (heute Anhuilu) befindet sich heute ein Kunstmuseum.
Minna Stielow verbrachte mehr als ihr halbes Leben in Qingdao. Sie hat so viele Veränderungen in China miterlebt. Vom Kaiserreich der Qing über die Republik zur Volksrepublik China.
Die Erinnerungen an diese außergewöhnliche Frau bleiben, denn sowohl in Qingdao als auch in Wilhelmshaven hat die Familie Stielow ihre Spuren hinterlassen.
Benutzte Quellen:
- StuDeO Studienwerk Deutsches Leben in Ostasien e.V. München
- Adressbücher von Tsingtau 1907 bis 1914
- Amtsblatt Kiautschou 1906, 1912 und 1913
- Adressbuch Wilhemshaven 1900