Gastbeitrag von Wang Dong, Qingdao. Copyright (Text und Fotos): Wang Dong
Anfang 2023 stellte ein Verkäufer aus Lübeck eine Reihe alter Fotografien von vor über 100 Jahren auf einer bekannten Auktionsseite in Übersee ein. Die etwa ein Dutzend zigarettenschachtelgroßen alten Fotografien wurden alle privat aufgenommen und entwickelt und zeigen zumeist langweilige Gruppenfotos von Ausflügen aufs Land und Familientreffen. Den Auktionsinformationen und den Angaben des Verkäufers zufolge wurden die Fotos um 1909-1910 in Qingdao aufgenommen. Allerdings gibt es keine Gesichter, die den Forschern bekannt vorkommen. Die Deutschen auf den Gruppenfotos sollen alle vor mehr als einem Jahrhundert nach Qingdao gereist sein. Eine wiederkehrende junge Frau fiel den Forschern jedoch auf mehreren Fotos der Landschaft auf. Diese Dame mit lockigem Haar, einem sonnenabweisenden Strohhut und einem hellen Kleid mit dunklem Schal und Krawatte blickte immer mit einem strahlenden, warmen Lächeln in die Kamera.
Wer war sie? Warum kam sie seinerzeit nach Qingdao? Wohin wollte sie reisen? Und wer sind die Leute, mit denen sie auf den Fotos abgebildet ist? Diese Fragen weckten auch die Neugierde und das Interesse des Forschers. So hat der Forscher anhand der alten Fotos die Orte in Qingdao gefunden und mit Hilfe einer deutschen Freundin, Frau Gerlinde Pehlken, wurde diese interessante Entdeckung und Interpretation durchgeführt. ……
Im März 1898, mit der Unterzeichnung des Pachtvertrags von Kiautschou in Peking wurde die von Deutschland besetzte Jiaozhou-Bucht offiziell zu seinem Protektorat im Fernen Osten. Zu den Deutschen, die in Scharen kamen, gehörten nicht nur die Offiziere und Soldaten, die mit der Garnison kamen, sondern auch Eisenbahn- und Hafentechniker, Regierungsbeamte, Missionare, Kaufleute sowie einfache Leute, die mit verschiedenen Ideen kamen, um zum Beispiel Chancen zu ergreifen, Risiken einzugehen, ein Vermögen zu machen, ein Unternehmen zu gründen usw. Der ursprüngliche Besitzer dieses Stapels alter Fotos soll einer von ihnen sein. Laut dem Memorandum über die Entwicklung von Kiautschou gab es bei der ersten Volkszählung im September 1902 nach der Eröffnung von Qingdao 688 ständige europäische Einwohner im Stadtzentrum von Qingdao, ohne die Garnison. Bis 1913, dem Ende der deutschen Konzession, stieg diese Zahl auf 2.069.
Der Forscher machte eine interessante Entdeckung, als er mehrere dieser alten Fotografien verglich und untersuchte. Auf einer der alten Fotografien (Abb. 1) ist die Szene vor dem Haupteingang einer kleinen Fabrik zu sehen, vor der ein Mann mit Melone und Anzug steht, links von ihm eine Frau in einem hellen, tief ausgeschnittenen Kleid mit langem Rock. Zu seiner Rechten steht ein Mann mit dunklem Hut und Schnurrbart, der in einer Kutsche fährt, die auf dem Weg in die Fabrik zu sein scheint. Zwischen den beiden Holzpfählen oben rechts befindet sich wahrscheinlich ein Schild für die Fabrik, aber leider ist das Foto nicht klar genug, um den Text zu erkennen. Auf der Rückseite des Fotos stehen drei handschriftliche Namen in deutscher Sprache und das Aufnahmedatum: „Herr August Meier, Herr H. Saxen, Frl. Else Häseler. Tsingtau März 1909“. Tsingtau März 1909.
Nach den von Hans-Joachim Schmidt, einem Forscher über die deutschen Gefangenen des Ersten Weltkriegs in Japan, gesammelten Informationen ist der vollständige Name von H. Saxen auf dem Foto Heinrich Saxen, aus dem heutigen Schleswig-Holstein. Er stammte aus Ostenfeld in der Region Husum im heutigen Schleswig. Saxen kam um 1905 nach Qingdao und arbeitete als Techniker in der Garnisonverwaltung und später als Vorarbeiter in der Hochbauverwaltung. Nach der Besetzung Qingdaos durch die Japaner im November 1914 geriet Saxen in Kriegsgefangenschaft und war bis Dezember 1919 in Japan interniert, bevor er entlassen wurde. Nach dem Krieg kehrte Saxen in seine Heimatstadt Husum zurück, wo er weiterhin in der Bautechnik tätig war. In den von Hans-Joachim Schmidt gesammelten Informationen wird erwähnt, dass Saxen am 17. Dezember 1914 einen Brief aus dem Kriegsgefangenenlager in Matsuyama, Japan, an Werner Lazarowicz (1873-1926) in Qingdao schrieb. Am 18. Januar 1916 erhielt Saxen eine Postkarte von Else Häseler aus Lübeck. August Meier arbeitete für die Bauverwaltung als Bautechniker, war dann als Teilhaber am Iltisbrunnen, dem Vorgänger von Laoshan Mineral Water, und baute das heutige Geschäftshaus in der Zhongshan Road 25. Die einzige Dame auf dem Foto ist, wie man an ihrem Namen erkennen kann, Else Häseler. Anhand des Stils und der Merkmale der Kleidung fand der Forscher Else Häseler auch auf mehreren anderen Gruppenfotos einer Zusammenkunft in einem Haus. Nach der Identifizierung und dem Vergleich ihres Aussehens glaubt der Forscher, dass Else die lächelnde junge Dame ist, die auf dem Gruppenfoto des Ausflugs in die Kamera schaut.
Zwischen 1901 und 1914 gab die deutsche Firma Otto Rose ein „Adress-Buch des Deutschen Kiautschou-Gebiets“ heraus, in dem die Namen, Adressen, Telefonnummern und Berufe der damals in Qingdao tätigen großen deutschen Firmen verzeichnet waren. Gleichzeitig wurden auch die Namen, Adressen und Berufe derjenigen Deutschen, die für längere oder kürzere Zeit in Qingdao lebten, weitgehend erfasst. Der Forscher fand den Namen von Else Häseler in der „Damenliste“ des Adressbuches. Demnach kam Else zwischen 1907 und 1908 nach Qingdao und wohnte in der August-Viktoria Ufer 43 (der heutigen Laiyang Road 8). Unter derselben Adresse wohnte Paul Weber (ca. 1878~?), der zu dieser Zeit in Qingdao gerade ein Dampfsägewerk (Tsingtauer Dampfsägewerk) eröffnet hatte, und seine Frau Emma Weber (1884~?). Emma wurde in Rondeshagen (im heutigen Schleswig-Holstein) geboren, ihr Mädchenname war Häseler, und sie war wohl Elses Schwester. Elses Reise nach Qingdao war wahrscheinlich auch auf eine Einladung der Schwester und des Schwagers zurückzuführen. Leider ist es uns nicht gelungen, weitere Einzelheiten über Elses Alltag in Qingdao zu erfahren.
Nachdem eine deutsche Freundin den Text auf der Rückseite der alten Fotos identifiziert und interpretiert hatte, gewann der Forscher ein tieferes Verständnis für diese historischen Bilder von vor mehr als 110 Jahren. Die Abbildungen 1 bis 4 stammen vom 28. März 1909, dem 25. Geburtstag von Elses Schwester Emma. Die Abbildungen 5 bis 9 zeigen Else mit ihrer Familie und ihren Freunden bei einem Ausflug zu den Prinz-Heinrichs-Bergen (dem heutigen Fushan) zu Pfingsten. Abbildung 10 zeigt die Insel Chao Lian, das am weitesten entfernte Land im damaligen deutschen Pachtgebiet Jiao Ao, obwohl Else offenbar nicht an diesem Ausflug ans Meer teilnahm. Abbildung 11 zeigt die Gruppe bei der Ankunft in Jiaozhou und bei der Besichtigung des Gartens der Residenz von Schüler, dem Pfarrer des Tongxinhui, aber Else erscheint nicht auf dem Gruppenfoto. Abbildung 12 zeigt Else in nachdenklicher Stimmung an einem klassischen Klavier sitzend, und Abbildung 13 zeigt Else im August 1910 auf der Arcona Insel (dem heutigen Little Qingdao).
Die Fotos spiegeln eine fröhliche und behagliche Zeit wider, aber sie war nur von kurzer Dauer. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlor Deutschland Qingdao nach 17 Jahren harter Arbeit, als die Japaner und Briten gemeinsam die Jiaozhou-Bucht blockierten und belagerten. Da Elses Name im Adressbuch 1913-1914 nicht auftaucht, ist klar, dass sie das Glück hatte, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zurückzukehren. Elses Schwager Paul Weber und auch Heinrich Saxen gerieten jedoch in Kriegsgefangenschaft und wurden in Internierungslager auf japanischem Boden gebracht. Erst 1919 wurden sie mit ihren Frauen und Kindern wieder vereint, die in Qingdao oder anderen Städten Chinas gestrandet waren. Wir glauben, dass Else Häseler nie wieder die Gelegenheit hatte, nach Qingdao zu kommen. Daher haben die Forscher keine Gelegenheit mehr, mehr über sie zu erfahren, und wir wissen nicht, ob ihr Leben nach ihrer Abreise turbulent oder ereignislos war. Die Bilder, die sie während ihres Aufenthalts in Qingdao bei ihren Freunden hinterlassen hat, laden jedoch zu einer Rückkehr in die Stadt ein, in der sie für kurze Zeit gelebt hat, und diese Fotos sind zu einer wertvollen Informationsquelle für künftige Generationen von Forschern geworden, die mehr über das tägliche Leben der deutschen Auswanderer in Qingdao wissen wollen. ……
Abb. 1 Herr August Meier, Herr H. Saxen, Frl. Else Häseler. Tsingtau März 1909, Else und ihr Freund Saxen stehen vor dem Sägewerk ihres Schwagers, um August Meier zu begrüßen, der mit einer Pferdekutsche zu Emmas Geburtstagsfeier gekommen ist.
Abb. 2 An der Geburtstagskaffeetafel von Frau Emma Weber am 28. März 1909, Else (ganz links) bei der Geburtstagsfeier ihrer Schwester Emma, mit Augst Meier als viertem von links, die Frau in Weiß, die links in der Mitte sitzt, wäre Emma Weber, die Hauptattraktion des Tages, und rechts ihr Mann Paul Weber. Möglicherweise haben sie gerade ihre Plätze eingenommen, denn alle haben einen leicht ernsten Ausdruck im Gesicht.
Abb. 3 Geburtstagsfeier Frau E. Weber Blitzaufnahme 28.März 1909
Else (mittlere Reihe, ganz links) bei der Geburtstagsfeier ihrer Schwester Emma. Die Mimik und Gestik der fotografierenden Gruppe zeigt, wie gemütlich und entspannt die Feier war. Emma Weber, mittlere Reihe, erste von rechts, Paul Weber, hintere Reihe, zweite von links, und August Meier, hintere Reihe, dritter von links.
Abb. 4 Von der 1/4 Jahrhundert Geburtstagsfeier unserer lieben Emma, am 28 März des Jahres 1909. Am 28. März 1909 begannen die Feierlichkeiten zum 25. Geburtstag unserer lieben Emma. Alle waren auf dem Badefloss der Garnison (das gleich hinter unserem Haus am Strande liegt).
Die Gemeinde, die an der Geburtstagsfeier teilnahm, befand sich auf einem schwimmenden Floß, das von den Deutschen am Strand hinter dem Haus Weber aufgestellt wurde. Die Frau in Weiß in der Mitte ist Emma und rechts neben ihr ist Else. Der Mann mit der Melone neben ihr ist August Meier. Der zweite von links ist HerrSaxen.
Abb. 5 Tsingtau 1909, Prinz Heinrich Berge. Ein geschäftlicher Ausflug Paul hat diese Aufnahme mit unserem neuen Apparat gemacht. Doch ganz schön, oder?
Else (Mitte) und ihre Freunde bei einem Ausflug auf den Prinz-Heinrich-Berg im Frühjahr 1909. Im Hintergrund sind die sanft geschwungenen Gipfel des Fushan-Gebirges zu sehen. Aus den handschriftlichen Anmerkungen auf der Rückseite des Fotos geht hervor, dass das Foto von Paul Weber mit einer neu erworbenen Kamera aufgenommen wurde.
Abb. 6 Von unserem Pfingstausflug in die Prinz Heinrich Berge. Tsingtau, im Frühjahr 1909
Else (dritte von links) und Freunde bei einem Ausflug zu den Prinz Heinrich Bergen im Frühjahr 1909.
Abb. 7 Prinz Heinrich Berge 1909.
Else (zweite von links) mit Freunden bei einem Ausflug auf den Prinz-Heinrich-Berg im Frühjahr 1909, der Mann in der Mitte mit der Melone ist August Meier. Einige der Figuren sind aufgrund des Verwackelns beim Fotografieren unscharf. Das Tor des Arakanischen Berges in Fushan ist links im Hintergrund zu sehen.
Abb. 8 1909 Prinz Heinrich Berge
Drei Männer besteigen den Berg in derselben Gruppe, aber auf der Rückseite des Fotos ist nicht angegeben, um wen es sich handelt. Zu beiden Seiten der Bergsteiger sind die Schwarzkiefern, die damals in großem Stil gepflanzt wurden, zu einem Wald geworden.
Abb. 9 Tsingtau 1909. Fushan im Frühjahr 1909
Das Backsteinhaus vor dem Berg wurde 1898 vom Ingenieurvermessungskorps gebaut, um eine topografische Vermessung durchzuführen, und diente später deutschen Auswanderern als Erholungsort auf dem Berg. Es ist nicht mehr vorhanden.
Abb. 10 Tschalientau 1909
Einige deutsche Auswanderer auf der Insel Tschalientau im Jahr 1909, mit dem 1903 erbauten Leuchtturm der Insel Tschalientau im Hintergrund. Diese isolierte Insel, 30 Seemeilen (ca. 50 km) südöstlich von Qingdao gelegen, ist 1,5 km lang und 71 m über dem Meeresspiegel gelegen, hat aber nur eine Fläche von 0,3 km².
Abb. 11 Grotte im Schüler ’suchen Garten zu Kiautschou April 1909. „In der Mitte ist meine Laupa, die meine Golfjacke trägt.“ (War das nicht ein Versuch, nett auszusehen?)
Im April 1909 reiste die Gruppe nach Jiaozhou und war zu Gast im Haus von Pfarrer Wilhelm Schüler (1869~1935), einem Missionar der Tongxian Kirche. Else ist auf dem Foto nicht zu sehen. Der handschriftliche Text bezieht sich auf Laupa, vermutlich auf eine Frau (evtl. Laopo) auf dem Gruppenfoto.
Abb. 12 Else am Piano
Else Häseler sitzt nachdenklich an einem klassischen Klavier. Auf dem Deckel ruht ein kunstvoller Leuchter, daneben sind mehrere kunstvoll gerahmte Porträts zu sehen.
Abb 13 Arcona Insel August 1910.
Im August 1910 besucht Else die Insel Arcona (heute klein Qingdao). In diesem 1904 aus Stein erbauten Leuchtturm gähnte sie, vermutlich vor Erschöpfung.
Abb. 15 Der Eintrag von Else Häseler in Qingdao im „Adress-Buch des Deutschen Kiautschou-Gebiets “.
Ich danke Frau Gerlinde Pehlken, Herrn Philipp Demgenski, Herrn Zou Deiting, Herrn Liu Yichen und Herrn Gu Qing für ihre Unterstützung und Mitarbeit bei der Texterkennung, den Fotos und der Datensammlung.
Referenzen und Materialien
1) Siebzehn Jahre Öffnung von Qingdao: Eine vollständige Übersetzung des < Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebiets > Qingdao Municipal Archives, herausgegeben vom China Archives Publishing House 2007
2) Die Verteidiger von Tsingtau und ihre Gefangenschaft in Japan (1914 bis 1920) , Historisch-biographisches Projekt von Hans-Joachim Schmidt (seit 2002)
3)《行名书》(Adress-Buch des Deutschen Kiautschou-Gebiets)Otto Rose,Tsingtau 1901-1914