Elise Schulz wurde am 15. Juni 1869 in Köslin/Pommern geboren und wuchs bei ihrem Großvater auf. Viel später beschrieb sie diese Kinderzeit in ihren Lebenserinnerungen als „traurige Jugend”. Die unverheiratete Mutter zog bald nach ihrer Geburt nach Berlin und holte ihr Kind erst nach der Einsegnung nach. Elise setzte bei ihrer Mutter durch, dass sie eine höhere Schule besuchen durfte. Das Schulgeld verdiente sie sich durch Beaufsichtigung von Schulkindern. Mit gerade mal 15 Jahren bestand sie die Prüfung für das Königliche Lehrerinnenseminar.
„Ohne jemanden zu Rate zu ziehen, hatte ich mir einen klaren und bestimmten Plan gemacht. Da es für Mädchen keine Gymnasien oder andere Anstalten zur Vorbereitung auf das Abitur gab, sah ich nur die Möglichkeit in der dreijährigen Ausbildung auf dem Seminar, meine Kenntnisse zu erweitern“, erzählte sie viele Jahrzehnte später ihrem Sohn Wigand. Nach dem Abschluss des Lehrerinnenseminars war sie einige Jahre als Erzieherin und Hauslehrerin tätig. Doch ihren Wunsch, Ärztin zu werden, gab sie nicht auf.
Als sie erfuhr, dass Helene Lange Realkurse zur Vorbereitung auf das Abitur für Mädchen eingerichtet hatte, meldete sie sich umgehend. Während sie in allen Fächern gute Leistungen zeigte, hatte sie Schwierigkeiten in Mathematik. Der Mathematiklehrer riet ihr ab, ein Studium der Medizin anzustreben. Daher lernte sie Krankenpflege und suchte einen Privatlehrer für Mathematik, den sie in Ernst Troschel fand.
Im April 1893 reiste sie nach Zürich, wo sie durch das Lehrerinnenzeugnis schon als Hörerin zugelassen wurde. Nach dem ersten Semester bestand sie die Maturitätsprüfung. In Zürich lernte sie Friedrich Nietzsche kennen, der einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließ. Im Kreis russischer Studenten traf sie auch Wladimir Lenin. Nach dem bestandenen Physikum ging sie zurück nach Deutschland und heiratete 1895 den Wasserbau-Ingenieur Ernst Troschel in Schöneberg. Er war ein Anhänger der Frauenbewegung und unterstützte seine Frau, ihr Ziel weiterzuverfolgen. Sie versuchte, ihr Studium in Berlin fortzusetzen, doch gab es 1895 kaum Studentinnen und schon gar nicht Medizinstudentinnen. Sie fragte jeden einzelnen Professor, ob er sie als Hörerin zulassen würde, doch die meisten lehnten entrüstet ab und hielten es für unanständig. Einige gestatteten den Kollegbesuch. So wurde sie eine der ersten Medizinstudentinnen in Berlin. Zur Promotion reiste sie 1899 noch einmal in die Schweiz.
Ab dem Wintersemester 1900/1901 wurden erstmals auch Frauen zur medizinischen Staatsprüfung in Deutschland zugelassen. An der Universität in Königsberg legte Elise Troschel 1901 ihr Staatsexamen ab. Sie wohnte bei einer Verwandten, die ihre Kinder Klara, Ernst und Hans 1899 während der Vorlesungen betreute.
Ernst Troschel arbeitete in verschiedenen Städten, darunter in Kolberg, Berlin und Langfuhr. Ab 1901 wurde er bei der Kaiserlichen Marine als Hafenbaumeister in Danzig geführt.
Im Herbst 1902 kam die Tochter Hela zur Welt. Neun Monate später, im Sommer 1903 bekam Troschel das Angebot, den Hafen des Schutzgebietes in Kiautschou auszubauen. Elise stimmte sofort zu und gemeinsam reisten sie mit vier Kindern im Alter zwischen neun Monaten und sechs Jahren mit dem Zug von Berlin nach Genua und von dort mit dem Reichspostdampfer „Bayern” nach Shanghai. Dort ging es mit dem Flussdampfer „Vorwärts” weiter nach Tsingtau.
Ende August trat Ernst Troschel seinen Dienst in der Hafenbauverwaltung in Tsingtau an. In den ersten Tagen wohnte die Familie mit dem Kindermädchen im Hotel Krippendorf. Kurz darauf bekamen sie eine kleine Wohnung in der Nähe des Hafenamtes zugewiesen. Die Hafenbauverwaltung baute ein neues Gebäude am Großen Hafen, im ersten Stock war eine Wohnung mit sechs Zimmern für den Hafenbaudirektor vorgesehen. Bevor das fünfte Kind Wigand Quanhai am 11. Februar 1904 geboren wurde, hatten sie schon die neue Wohnung bezogen. Die Zimmer der Hafenbauverwaltung waren geräumig mit hohen Fenstern, eine vorgebaute Veranda bot im Sommer ausreichend Schatten.
Sofort nach dem Einzug richtete Elise Troschel ihre Praxis ein. Im Adressbuch der Stadt Tsingtau stand: Frau Dr. Elise Troschel, Westpaßstraße, am Großen Hafen. Das Extrablatt der Wochenzeitschrift „Kiautschou-Post” berichtete, dass sich in Tsingtau eine Dr. Elise Troschel niedergelassen hätte.
Die medizinische Versorgung in Tsingtau war mehr als ausreichend, im Lazarett an der Bismarckstraße gab es genug Marineärzte, zudem hatten sich einige Privatärzte niedergelassen. In den ersten Jahren gab es viele Fälle von Cholera, Ruhr und Typhus.
Die Chinesen wurden neben den Marineärzten von den Missionen versorgt. Frau Dr. Troschel war als Ärztin und Geburtshelferin beliebt bei den chinesischen Frauen, sie fuhr mit der Rikscha oder mit einem Boot in die naheliegenden Dörfer. In ihrer Autobiographie „50 Jahre Dr. med.” berichtete sie ausführlich aus ihrem Leben, unter anderem aus Tsingtau. Sie schilderte, dass es schwierig war, den enttäuschten Väter zu erklären, dass sie eine Tochter bekommen hatten. Einige Väter von neugeborenen Jungen kamen später mit wertvollen Geschenken in die Praxis.
Ihr Sohn Hans Troschel hat viele Erlebnisse aus Tsingtau literarisch aufgearbeitet: „Dicht am Hafen stand unser Haus. Wir sahen übers Meer, in der Ferne matt das zackige Pearl-Gebirge. Wenn ein großer Segler kam oder ein Postdampfer aus Europa, waren wir Kinder da unten am Hafen. Eines Tages kam ein Riesendampfer rauchqualmend herein. Ein Kriegsschiff war es mit vielen großen Kanonen. Das sah gewaltig aus. Aber er war ganz zerschossen, die Schornsteine waren durchsichtig wie ein Sieb. Es legte an. Es war mehr ein Totenschiff. Leichen wurden von Bord getragen und Menschen verstümmelt wurden auf Bretter gesetzt mit Stricken daran. Dick tropfte das Blut herab von ihnen auf die Bretter, dann auf die Straße.“
Hans war gerade fünf Jahre alt, als das russisches Kriegsschiff „Zessarewitsch” am Abend des 11. August 1904 in den Hafen einlief, aber diese frühen Erlebnisse begleiteten ihn ein Leben lang. Die „Zessarewitsch” war im Russisch-Japanischen Krieg beteiligt. Als Flaggschiff verließ sie am 10. August mit weiteren Schiffen den Hafen von Port Arthur, um die Belagerung der Japaner zu durchbrechen und nach Wladiwostok zu laufen. Beim Angriff der Japaner konnten die anderen Schiffe entkommen, die „Zessarewitsch” war durch Granatsplitter schwer getroffen worden. Mit drei weiteren Zerstörern lief sie in den Hafen von Tsingtau ein und machte an der Mole II fest. Viele Tote wurden von Bord geschafft, darunter auch der Befehlshaber, der deutschstämmige Konteradmiral von Withöft. Da die Wohnung der Familie Troschel direkt am Hafen lag, konnte man das Einlaufen der stark zerstörten Dampfers sehen. Dr. Elise Troschel half bei der Erstversorgung, bevor die Schwerverletzten ins Krankenhaus gebracht wurden. Hans erzählte Jahrzehnte später, dass er mit seinem älteren Bruder Ernst und seiner Schwester Klara am Wegesrand zugeschaut hätten.
Trotz ihres Haushaltes mit sechs Kindern – im September 1905 wurde Gerda, genannt Tsing Ming, geboren – und der Praxis hatte sie genügend Zeit, ihre älteste Tochter Klara Zuhause zu unterrichten; die beiden Jungen Ernst und Hans gingen in die Gouvernementsschule. Sie ritten jeden Morgen mit Eseln zur Bismarckstraße, ein Pferdeknecht begleitete sie und trug die Bücher. Während der Unterrichtszeit wartete der junge Bursche mit den Eseln vor der Schule.
In den ersten Monaten in Tsingtau überwachte das aus Danzig mitgebrachte Kindermädchen Elwira Liebert den Haushalt, sie führte das chinesische Personal durch ihre Autorität. Doch sie lernte den Bautechniker Walter Reichau kennen und schon am 2. Dezember 1903 bestellten sie das Aufgebot.
Die Troschelkinder machten oft Entdeckungsreisen. Die beiden Jungen ritten mit ihren Eseln durch die weitere Umgebung. Besonders in den Schluchten fanden sie exotische Tiere. In den großen Tümpeln trieben sie Wasserwanzen auf, die so groß waren wie Pfannkuchen, berichtete Hans seinen Eltern. Manchmal wurde er von Skorpionen gebissen, aber Hans steckte diese unbekannten Lebewesen in eine Tasche und nahm sie mit nach Hause.
Gerne entdeckten sie das Chinesenviertel Tapautau, das zwischen dem Hafengebiet und dem Europäerviertel lag. Da bestaunten sie chinesisches Spielzeug, Papierschnitte und edles Porzellan. Manchmal vergaßen die Kinder die Zeit, als am Abend die Lampions leuchteten, bestellten sie sich schnell eine Rikscha und nannten die Adresse: Hafenbauverwaltung. Die Kulis wussten sofort Bescheid.
In den heißen Sommermonaten fuhr Familie Troschel mit den Kindern ins Laoshan-Gebirge, dort logierten sie im Mecklenburghaus. Die drei größeren Kinder liebten diese Ausflüge, besonders Ernst junior und Hans erkundeten diese wilde schroffe Berglandschaft.
1906 wurde Ernst Troschel nach Wilhelmshaven versetzt und wirkte dort als Marine-Hafenbaumeister der Kaiserlichen Werft. Die Familie bezog eine Wohnung in der Königstraße 50.
Nach einiger Zeit eröffnete Elise auch dort eine Praxis. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Danzig. Im Jahr 1912 wurde das 7. Kind Ilse geboren.
Dr. Elise Troschel erlebte zwei Weltkriege. Nach vielen Stationen verbrachte sie ihren Lebensabend in Oldenburg. Sie starb am 6 November 1952; ihre Grabstätte befindet sich auf dem Neuen Osternburger Friedhof.
Sie hinterließ ihrer Familie viele literarische Arbeiten. Leider ist eine Abhandlung über Konfuzius in den Kriegswirren verloren gegangen. Die Liebe zur chinesischen Philosophie hat sie stets im Herzen getragen.
Benutzte Quellen:
- Familienarchiv Troschel
- Troschel, Elise: Fünfzig Jahre Dr med. (unveröffenlich)
- Kaiserliches Gouvernement Kiautschou: Amtsblatt für das Kiautschou Gebiet 1903 und 1904
- Bölck, Martina & Veth, Hike: „Ausgerechnet zu den Chinesen… “ , Deutschsprachige Abenteurerinnen in China, Aviva Verlag, Berlin 2023
- Reddemann, Hans: Berühmte und bemerkenswerte Mediziner aus und in Pommern, Thomas Helm Verlag, Schwerin 2003
- Reddemann, Karl: Maler in „Himmel und Hölle“ Biographische Annäherung an den Maler und Graphiker Hans Troschel, Verlag Regensburg, Münster 1999
- Archiv Pehlken