Vertraute Robinien

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Die Robinie ist ein mir seit meiner Kindheit vertrauter Baum. Einst hatte ich sogar geglaubt, dass sie in China heimisch sei, bis eines Tages ein Lehrer uns im Schulunterricht erklärte, dass der Baum aus Nordamerika stammte und erst 1877 nach China gebracht worden war. Dennoch wecken ihr Anblick und ihr Duft noch heute heimatliche Gefühle in mir, wenn ich diesem Baum im Ausland begegne.

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So geschah es auch an einem milden Juniabend in dem ersten Sommer, den ich in Oldenburg verbrachte. Um halb sieben stand die Sonne noch hoch, viel höher als in China um diese Zeit. Ich ging am Augusteum vorbei den Damm entlang auf dem Weg zu einer Freundin. Den zarten Duft, der die Luft erfüllte, hielt ich zuerst für einen der vielen Blumendüfte, die mich an so vielen Stellen in dieser Stadt der Gärten erfreut hatten. Doch dann wurde mir bewusst, dass mir dieser leicht süßliche Geruch von früher vertraut war. Während ich weiterging, schaute ich mich um. Meine Blicke wanderten zu den Stämmen der Bäume mit gefurchter graubrauner Rinde, die seitlich von mir aufragten, und weiter hinauf zu deren Wipfeln. Dort entdeckte ich zwischen frischgrünen gefiederten Blättern herabhängende cremefarbene Blütentrauben, die friedlich im goldenen Licht der Abendsonne schimmerten. Waren es nicht die Blüten von Robinien? Freudig überrascht hielt ich inne.

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Ich starrte auf die Blütentrauben, und ein warmes Gefühl stieg in mir auf. Auf einmal fühlte ich mich der Heimat nahe. Die Stadt Kaifeng, in der ich an der Henan-Universität studiert hatte, wurde einst von einem Schriftsteller 槐花王国 „Königreich der Akazien“ genannt, wobei neben echten Akazien auch die Robinien als „ausländische Akazien“ ( 洋槐树Yang Huai Shu) mit gemeint waren. Auf den Plätzen, Straßen und Gassen standen Robinien, deren Blütenduft im Mai die ganze Stadt durchzog. Kaifeng, am Ufer des Gelben Flusses 17 m tiefer als das Flussbett gelegen, erlebte im Lauf der Jahrtausende immer wieder verheerende Überschwemmungen. Dabei transportierten die Wassermassen sandige Sedimente in das Überschwemmungsgebiet. Zur Verhinderung der Bodenerosion durch den Wind wurden von den Einheimischen in der Stadt und ihrer Umgebung zahllose Robinien gepflanzt, die den sandigen und trockenen Boden befestigten. Auf dem Campus der Universität standen natürlich auch überall Robinien. Vor unserem Fachbereichsgebäude wuchs sogar ein ganzer Hain von diesen Bäumen. Ich erinnerte mich, wie wir an heißen Sommertagen in der Zeit der Prüfungsvorbereitungen unser Arbeitstischchen aus dem Klassenraum in diesen kleinen Wald schleppten, es in den von tanzenden Sonnenreflexen durchzogenen lichten Schatten stellten und bei der Arbeit den leichten Luftzug genossen.

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Als ich schließlich aus den Erinnerungen in die Gegenwart zurückkehrte, meine Augen von den Blüten abwandte und an den Bäumen vorbei weiterging, blieb ein Glücksgefühl noch lange in mir zurück. Ich fühlte mich durch die Gegenwart dieser vertrauten Bäume der Heimat nahe.

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